Einst, vor langer Zeit, als Tier, Mensch, Pflanzen und Universum noch in Verbundenheit miteinander lebten, wuchsen in einem Garten eine Föhre und eine Birke frei und stolz dem Himmel entgegen. Hoch auf ihren Wipfeln turnten vergnügt Eichhörnchen herum und im kräftigen Stamm der Föhre war eine Baumfrau eingezogen. Alle lebten zu-frieden miteinander und in Harmonie mit den Menschen, die ihre Häuser um die Bäume herum gebaut hatten.
Doch mit der Zeit wuchsen rund um den Garten herum neue Häuser in die Höhe und in die Breite, und mancher Baum wurde geopfert, weil der Platz gebraucht wurde. Strassen führten zu den Häusern, immer mehr Autos fuhren und verbreiteten Lärm und Gestank. Auch die Kamine der zahlreichen Häuser sowie immer mehr Fabrikschlote überzogen den einst glasklaren Himmel mit ihrem rauchigen und stinkenden Dunst.
Für die wenigen Bäume, die noch blieben, wurde das Leben enger und auch der Platz für die Tiere wurde kleiner und unwirtlicher. Und die Menschen, ihrer natürlichen Umgebung beraubt, verloren immer mehr den Bezug zur Natur. So sehr, dass sie nicht mehr spürten, was ihre Seele wirklich brauchte um sich frei zu entfalten. Sie verloren die Achtung allem Lebenden gegenüber, ernährten sich von toter Fertig-Nahrung und missbrauchten Tiere und Natur, als ob es tote, unbeseelte Gegenstände wären. Je wichtiger ihnen die materiellen Dinge wurden, desto blinder wurden sie für die Kräfte der feinstofflichen Natur.
Viele Tiere kämpften um ihr Überleben und flohen an Orte, die noch heil geblieben waren.
Nur ein einziges Eichhörnchen war im Garten zurückgeblieben und beobachtete die Entwicklung der Menschen mit grosser Sorge. Traurig tauschte es sich mit der Baumfrau aus und beide suchten nach
Wegen, die Herzen der Menschen zu erreichen, die noch offen waren für die Musik der Natur. Doch es wurden immer weniger!
Eines Tages, als die letzten alten Leute im Haus des zauberhaften Gartens gestorben waren, suchten junge Geschäftsleute das Gelände auf. Sie massen es aus und entschlossen sich, das alte Haus niederzureissen und stattdessen ein neues, hohes Haus zu bauen. Die Bäume, die Baumfrau und das Eichhörnchen spürten die Gefahr, die ihnen, aber auch den Menschen drohte, wenn auch dieses letzte Stück Natur dem Geld geopfert würde. Sie beratschlagten, was zu tun sei, denn die Zeit drängte…
Eines Morgens, in aller Frühe, fuhren Baumaschinen auf. Männer mit Motorsägen gingen bedrohlich auf die Bäume zu. Das Eichhörnchen geriet in Panik, fiepste schrill um Hilfe und in windeseile strömten von allen Seiten hunderte von Eichhörnchen aus den umliegenden Wäldern herbei. Sie bauten sich zu einem riesigen Schutzwall vor den Bäumen auf und zwangen die Männer innehalten. Langsam schlossen sie sich zu einem Kreis um die Männer zusammen und bildeten ein Tunnel zur Föhre hin, wo die Baumfrau hauste. Da diese für menschliche Augen unsichtbar war, setzten sich die kleinsten Eichhörnchen auf ihren Körper und machten dadurch ihre Umrisse für die Menschen sichtbar. In Angst und Panik warfen sich diese zitternd auf den Boden und wussten nicht wie ihnen geschah. Da vernahmen sie in den Ästen der Bäume ein immer stärker werdendes Säuseln des Windes. Leise Worte begannen sich zu formen: „Habt keine Angst… erinnert auch an das, was ihr im Grunde eurer Seele seid… göttliche Wesen…“. Und als die Worte verklungen waren, gingen die Eichhörnchen auf die Menschen zu und spendeten ihnen mit ihren kleinen Körpern Wärme, Liebe und Trost. In diesem Moment begannen die Menschen wieder mit ihrem Herzen zu sehen. Sie erkannten das Leiden und die Angst der Tiere und Pflanzen, und bemerkten, wie sehr sie sich von ihrem göttlichen Kern und den Kräften der Natur entfernt hatten. Es war wie ein Erwachen…
„Dies war der Beginn einer neuen Zeit, der Beginn unserer blühenden Kultur und des weltweiten Friedens auf diesem wunderschönen Planeten, mit dem Namen Erde“, sagten die Grosseltern ihren kleinen Enkeln und zeigten auf eine wunderschöne Föhre mit ihrem rötlichen Stamm und auf eine Birke, die schlank in den Himmel wuchs. Liebevoll fütterten die Kinder eine Eichhörnchenfamilie und konnten sich nicht vorstellen, dass das Leben einmal anders gewesen war.
©Mirjam Rigamonti Largey